Körperliche Nähe in der Familie
Kuscheln tut gut, beruhigt und baut auf. Doch nicht jeder hat die gleichen Bedürfnisse. Wichtig für Familien sind Feinfühligkeit und Respekt.
Warum Sie diesen Artikel lesen sollten:
Für Babys sind Berührungen ein wahres Lebensmittel. Auch danach bleibt liebevoller Körperkontakt wichtig für die Bindung sowie das Wohlbefinden von Kindern und Eltern.
Inhaltsverzeichnis
Gleich nach der Geburt konnte ich meine Tochter Haut an Haut halten, sehr erschöpft und überglücklich zugleich. In den folgenden Wochen und Monaten kuschelten mein Mann und ich ausgiebig mit unserem Baby – beim Wickeln, Baden, Stillen oder Füttern. Auch als Kita- und Grundschulkind bekam die Kleine viele Streicheleinheiten, am innigsten beim Vorlesen vor dem Einschlafen. Rund um den Wechsel aufs Gymnasium verlor sich dieses Ritual, Schmusen mit den Eltern war immer seltener angesagt. Für Nähe zu uns sorgten stattdessen Gespräche, Unternehmungen, kurze Nachrichten. Dabei ist es geblieben. Doch Körperkontakt hat und genießt meine Tochter – heute 25 – mit lieben Freundinnen und seit sechs Jahren mit ihrem Freund.
Die Vorteile von körperlicher Nähe in der Familie
Streicheln, küssen, auf den Schoß nehmen, umarmen: Mit körperlicher Nähe in der Familie wie liebevollen Berührungen, die zu einer Ausschüttung des Kuschelhormons Oxytocin führen, geben Eltern ihren Kindern das wohlige Gefühl von Geborgenheit und stärken so die emotionale Bindung innerhalb der Familie. Körperkontakt hat aber noch andere elementare Funktionen: Für Neugeborene ist er ein wahres „Lebensmittel“. Allein aus ihm „resultiert eine Stimulation des Säuglingskörpers, die ihrerseits physiologische und neurophysiologische Wachstumsprozesse in Gang setzt“, erklärt Dr. Martin Grunwald in seinem Buch „Homo hapticus“. Wie ein biologisches Kraftwerk stimuliere Körperkontakt die Körper- und Hirnentwicklung ab der Geburt.
Positive Wirkung von Berührungen
Beim Größerwerden bleibt Körperkontakt weiter wichtig: Ein Forschungsteam aus Bochum, Duisburg-Essen und Amsterdam wertete über 130 internationale Studien mit rund 10.000 Teilnehmenden aus und fand heraus, dass Berührungen den größten Effekt auf die mentale Verfassung haben, weil durch sie Schmerz, Depressivität und Angst signifikant abnehmen. Blutdruck oder Herzfrequenz beeinflussen sie ebenfalls positiv. Und egal ob Kleinkind oder Erwachsener – als günstiger erwiesen sich kürzere, häufigere Berührungen. Auf sie spricht die Haut, unser größtes Organ, mit einer sehr hohen Anzahl an tastsensiblen Rezeptoren zuverlässig an.

Welches Maß an Nähe ist angebracht?
Schon der Fötus macht in der Gebärmutter „eine ursprüngliche sensorische Erfahrung“, so Dr. Martin Grunwald über ein erstes „universelles Konzept der Nähe“. Dieses vermittle dem Ungeborenen: „Etwas, das meinen Körper berührt und zugleich warm und weich ist, ist gut für meinen Körper.“ Entsprechend groß ist nach der Geburt das Bedürfnis des Babys nach Nähe zur Mutter, aber auch zu anderen engen Bezugspersonen. Aus dieser Sicherheit heraus kann es sich in der zunächst noch fremden Welt orientieren und ankommen, am Anfang noch ganz und gar abhängig von der Fürsorge und Nähe der Eltern. Mit dem Krabbeln- und Laufenlernen machen Kinder erste Autonomieerfahrungen und brauchen sukzessive weniger Körperkontakt. Doch haben sie Angst, Schmerzen, sind sie müde, gestresst oder traurig, suchen sie liebevolle körperliche Nähe in der Familie als Zuflucht und Trost.
Was tun, wenn das Kind zu viel oder zu wenig Nähe sucht?
Eltern sollten diesen Halt geben, aber auch loslassen können – je älter ein Kind ist, umso mehr. Denn irgendwann wird zwar noch zu Hause mit Mama geschmust oder mit Papa getobt, in der Öffentlichkeit wäre das aber peinlich. Teenager gehen meist auf körperliche Distanz zu den Eltern, unter Freundinnen und Freunden wird Körperkontakt aktiv gesucht und ausgelebt. Pauschal lässt sich allerdings nicht sagen, in welchem Alter Kinder wie viel Zuwendung und Berührungen brauchen. Das kann je nach Charakter, Kultur und Situation variieren. „Wenn Eltern trotz deutlicher Abwehrsignale des ruhe- und rückzugsbedürftigen Kindes ihr eigenes Kontaktbedürfnis stillen, fördert dieses Verhalten weder das Wohlbefinden noch die Entwicklung des Kindes“, warnt Dr. Martin Grunwald. „Im ungünstigsten Fall entwickelt sich die Fähigkeit der eigenen Bedürfniswahrnehmung gar nicht oder nur unzureichend.“
Das Overtouched-Syndrom
Es gibt sogar Kinder, die Berührungen gar nicht mögen oder ertragen. Bei einer Autismus-Spektrum-Störung gehört das zum Krankheitsbild, bei einer Körperkontaktblockierung genauso. Weil eine Aversion gegen Kuscheln & Co. sowohl die Bindungsfähigkeit als auch das Sozialverhalten beeinträchtigt, sollten sich Eltern mit einem Kinderarzt beraten und eine Therapie in Erwägung ziehen. Aber nicht nur Kinder können unter zu viel Körpernähe leiden. Auch manche Mütter tun das. Denn wenn kleine Kinder regelrecht an ihnen kleben, ständig mit im Bett schlafen wollen und on top auch noch der Partner schmusen möchte, fehlten Rückzugsmöglichkeiten und ungestörte Auszeiten. Dann wird es höchste Zeit, um ehrlich über die überfordernde Situation zu sprechen, sich Unterstützung zu suchen und sich mehr persönlichen Freiraum zu nehmen.

Tipps, um körperliche Nähe in der Familie für alle angenehm und richtig zu gestalten
Das Bedürfnis nach Körperkontakt ist angeboren, ihn anderen zu geben und selbst zu suchen, elementar für ein harmonisches, erfülltes Miteinander. Doch während der eine nicht genug kuscheln kann, dockt der andere lieber nur kurz an. Da auch innerhalb einer Familie jeder anders tickt, sollten die jeweiligen Bedürfnisse mit Feinfühligkeit erspürt und respektiert werden. Außerdem nimmt im Lauf der Jahre der Körperkontakt zwischen Eltern und Kindern automatisch ab. Wichtig bleibt er – ein Leben lang. „Wie bei vielen anderen Tastsinnphänomenen stehen wir erst am Anfang eines umfassenden Verständnisses über die biologischen Wirkmechanismen“, so Dr. Martin Grunwald. „Doch kann schon jetzt mit Sicherheit gesagt werden, dass der zwischenmenschliche Alltag ohne ein gewisses Maß an Körperinteraktionen und Fremdberührungen nicht menschlich zu nennen wäre.“
Video: Warum Kuscheln und Berührungen so wichtig für dich sind
Wir fanden dieses Video aus der Reihe Terra Xplore über das Bedürfnis nach Berührung und die Folgen eines Mangels an Köperkontakt sehenswert:
Lektüretipps
Bücher, Internetseiten und Podcasts, die das Bedürfnis nach Körperkontakt erklären, aber auch ermutigen, sich abzugrenzen:
„Homo hapticus“ von Dr. Martin Grunwald (Droemer)
Sachbuch eines experimentellen Psychologen über den elementaren Einfluss des Tastsinns auf alle Lebensbereiche. Ein großes Kapitel ist dem Körperkontakt als „Lebensmittel“ gewidmet.
„Von der Kraft der Berührung“ von Wilhelm Schmid (Insel Verlag)
Buch eines Philosophen über das Phänomen der Berührung, die eine subtile Macht sein kann und als Antwort auf eine „digitale Entsinnlichung“ zunehmend wichtig wird.
„Kuscheln“ von Angelika Huber-Janisch (arsEdition)
Bilder- und Vorlesebuch für Kinder ab vier Jahren über das Kuschelverhalten verschiedener Tierarten, das die Bedeutung körperliche Nähe veranschaulicht – egal ob Elefant oder Löwe.
„Schluss! Kein Kuss! Das Allerkleinste sagt laut Nein“ von Kerstin Hau (Herder)
Bilderbuchgeschichte für Kinder, die Mut zum Neinsagen macht. Denn die meisten Kids mögen Kuscheln und Knuddeln, aber das nicht immer, überall oder gar ungefragt.
ardalpha.de
Wissenswertes rund um das Thema „Warum Berührungen und Kuscheln gesund sind“ inklusive Links zu passenden Radio- und Fernsehsendungen über „Die schönsten Knuddelerfahrungen“, „Good and bad touch“ oder „Die Kunst zu trösten“.
youtube.com
Podcast-Episode mit Katia Saalfrank aus der Reihe „Familienrat“. Unter dem Titel „Kuscheln mit Papa“ geht es um die Veränderungen der Bedürfnisse nach Körperkontakt, wenn Kinder zu Teenagern werden.
familienhandbuch.de
In der Nähe der Eltern schlafen? Aus bindungstheoretischer Sicht ist das in bestimmten Phasen und Situationen sinnvoll. Aber auch Elternbedürfnisse sollten nicht zu kurz kommen.
Zur Autorin: Die Mutter von Antoinette Schmelter-Kaiser war kein Kuscheltyp, doch ihr Vater verteilte zum Glück gerne Streicheleinheiten. Dieses wohltuende Gefühl von Nähe gab die Autorin später möglichst oft an ihre eigene Tochter weiter.
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